Plädoyer fürs mutige Brechen von Tabus

Im Interview spricht der Vorstand der Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie am Klinikum Klagenfurt über seine Kindheit in einem Viergenerationenhaus in Döbriach, über Schweigemauern in der Familie, die heilsame Lüftung derer Geheimnisse und die Kraft des Redens, die aus Scham Stolz werden lässt.

Herwig Oberlerchner (58) aus Klagenfurt hat schon mehrere Bücher geschrieben; unter anderem über Menschen mit paranoider Schizophrenie, die durch alle Maschen des Versorgungssystems fallen; über ethische Aspekte in der Altersmedizin und die Geschichte der Psychiatrie in Kärnten mit Schwerpunkt NS-Euthanasie. Nunmehr setzt sich der Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie und Vater zweier erwachsener Söhne mit seiner eigenen Biografie auseinander und lüftet in seinem Buch „Das Schweigen wird laut" die Geheimnisse seiner Familie - stellvertretend für viele Menschen. Er versteht es als Plädoyer "für Neugierde, fürs Reden, für Offenheit und für den Mut, sich mit Tabus auseinanderzusetzen".

Herr Primarius Oberlerchner, Sie sind landesweit als Psychiater bekannt und treten immer wieder auch als Autor in Erscheinung. Warum das Schreiben?

Herwig Oberlerchner: Ich wollte immer tief in Biografien und Lebensgeschichten eintauchen, habe mich sehr intensiv mit der mythenumwobenen historischen Figur des Kaspar Hauser beschäftigt und auch eine Psychografie über Thomas Bernhard geschrieben. Das neue Buch ist eine konsequente Fortsetzung meiner literarischen Tätigkeit, eine Art Aufarbeitung meiner Familiengeschichte, weil mir eines Tages bewusst geworden ist, dass die Biografie, in die ich am tiefsten eingetaucht bin, meine eigene ist.

Lassen Sie uns bitte miteintauchen in Ihre Lebensgeschichte. Wo nahm sie ihren Anfang?

Oberlerchner: In einem 1.000-Seelendorf, in Döbriach am Millstätter See, dem Familienstammsitz mütterlicherseits, habe ich Kindheit und Jugend in jenem Haus verbracht, das mein Urgroßvater am Anfang des 20. Jahrhunderts gebaut hat. Wir waren vier Generationen unter einem Dach und meine Vorfahren Wagner. Im Haus gab es zwei Werkstätten. Es war laut, staubig, gefährlich, spannend. Es gab eine Mühle am Nachbargrundstück und einen rauschenden Bach. Ich hatte das große Glück, dass die Großväter und Urgroßväter nicht im Krieg gefallen waren. Wir sind sehr viel zusammengesessen. Es war eine Großfamilienidylle mit riesigen Geburtstagsfesten. Da wurde viel geredet. Es gab aber Themen, die ausgespart wurden, tabuisierte, verschwiegene Themen. Wenn wir Kinder aufmerksam zuzuhören begannen, verstummten die Erwachsenen. Gerade bei diesen Arealen des Schweigens oder beim Gefühl des Ausgeschlossenseins wurden meine Ohren besonders spitz. Ab und zu wurden auch Informationen weitergegeben. Es gab Themen unterschiedlichen Tabuisierungsgrades, die Zugehörigkeit zur SA oder NSDAP erfuhr ich recht bald. Ungewollte Schwangerschaften oder die große Anzahl toter Kinder aufgrund der Tuberkulose, die in meiner Familie grassierte, wurden bis zuletzt verschwiegen.

Waren diese Familiengeheimnisse ausschlaggebend für Ihre spätere Berufswahl?

Oberlerchner: In meiner Kindheit und Jugend fiel es mir schwer, die Familienverhältnisse zu durchblicken. Wer gehörte zu wem? Zu welcher Generation? Als ich beispielsweise erfuhr, dass mein heiß geliebter Urgroßvater, der mich auf seiner Werkbank als kleinen Buben mit Holz, Schmirgelpapier und Feilen beschäftigte und dessen Lindekaffee so großartig roch, nicht mit mir verwandt ist, hat mich das zutiefst irritiert. Ich verspürte inneren Protest, bis ich letztendlich die Entscheidung getroffen habe, dass ich ihn unabhängig von Verwandtschaft liebe und verehre. Ich trage diesen Mann noch immer in meinem Herzen. Erfahrungen wie diese haben Einfluss auf meine Neigung genommen, tief in biografische Details, tief in Interaktion und Kommunikationsmuster von Familien hineinschauen zu wollen. Am besten lernt man das, wenn man zum Psychoanalytiker ausgebildet wird.

Als Psychiatrie-Primar engagieren Sie sich sehr in der Suizid-Prävention. War Suizid auch Thema in Ihrer Familie?

Oberlerchner: Ja! Über die Tatsache des vermehrten Auftretens von Depressionen wurde zwar gesprochen, aber dass es in unserer Familie in jeder Generation ein bis zwei Suizide in der väterlichen Linie gab, habe ich selbst recherchiert. Als ich 15 Jahre alt war und sich mein Vater suizidierte, gab es tatsächlich noch die Diskussion, ob zum Begräbnis eine Messe gelesen werden darf. Wir erlebten ein Abwendungsverhalten von Familienmitgliedern, Verwandten und Nachbarn. Statt uns zu trösten, machten viele einen Bogen um uns. Die Betroffenheit und Überforderung verhinderten Gespräche. Das hat mich und meine Auseinandersetzung mit dem Thema im Kontext meiner psychiatrisch-psychotherapeutischen Tätigkeit geprägt. Wenn sich an meiner Abteilung jemand während des Aufenthaltes oder kurz danach das Leben nimmt, nehme ich aktiv mit der Familie Kontakt auf. Wir rekonstruieren mit ihr das Ereignis, vermitteln zu Trauer- und Selbsthilfegruppen. Das, was mir vorenthalten wurde, gebe ich also an Betroffene weiter.

In jeder Familie gibt es Geheimnisse, Vorfälle und Begebenheiten, über die niemand spricht. Sie sprechen nicht nur darüber, sondern haben sich auch für die Publikation entschieden. Wie geht es Ihrer Familie damit, wie Ihnen als Psychiater und Psychotherapeuten, der Sie der Öffentlichkeit so tiefe Einblicke in Ihr (Seelen-)Leben gewähren?

Oberlerchner: Ein Auslöser für das Buch war die wiedergefundene Familie in Kanada. Mein Großvater war 1927 ausgewandert und hat eine Familie in Kärnten zurückgelassen und eine zweite in Toronto gegründet. Das Auffinden dieser Familie, die Begegnung mit der Großtante waren sehr berührend und spannend. Auch wenn es innerhalb der Familie viele Gespräche bis zum Einverständnis für die Publikation in Buchform gebraucht hat, war die Entscheidung richtig. Das Buch empfinden viele Leser*innen als Einladung, sich mit der eigenen Familiengeschichte auseinanderzusetzen. In meiner Familie ist indes passiert, was ich beschreibe. Plötzlich ist nicht mehr Scham wegen der Suizide vorhanden, sondern man ist stolz auf seine Vorfahren. Man verschweigt die Themen nicht mehr, sondern redet laut darüber, weil man weiß, dass Schweigen bricht, wenn man es zur Sprache bringt. Kommunikation und Gespräche sind heilsame Mittel gegen Familientraumata und nützen der nächsten Generation. Sonst werden transgenerationale Themen weitergegeben, die krank machen.

Sie lesen am Montag, dem 22. Mai, um 19 Uhr im "ausgebuchten" magdas LOKAL. Die Cellistin Miramis Semmler-Mattitsch unterstreicht Ihre Worte mit berührender Musik. Der Eintritt sind freiwillige Spenden für die Lebensberatung der Caritas. Wie das?

Oberlerchner: Das magdas ist mein Geheimtipp – als Hotel in Wien und als Restaurant in Klagenfurt. Wir unterstützen die Caritas mit ihrer Lebensberatung und der TelefonSeelsorge sehr gerne. Diese sind wichtige Kooperationspartnerinnen für uns in der Psychiatrie. Ich freue mich schon auf den Abend sowie alle Besucherinnen und Besucher.

Ausschnitte dieses Interviews sind dem Podcast Hörgang mit dem Titel „Tabubruch - Das schwere Erbe von Familiengeheimnissen“ von Springer Medizin Wien/Martin Krenek-Burger entnommen. Hier geht es zum Podcast.